


LAUTERBACH (bl). Es gibt sicher nur wenige deutsche Politiker, die auf eine solch bewegte Karriere zurückblicken können wie Hans Eichel: Der heute 74-Jährige war Oberbürgermeister von Kassel, hessischer Ministerpräsident und Bundesfinanzminister. Derzeit beschäftigt den SPD-Mann die Zukunft der Europäischen Union, die vor einer Zerreißprobe steht, sollten die Briten am 23. Juni für den Austritt aus der EU votieren ("Brexit"). Darüber sprach Eichel am Mittwochabend beim zweiten Frühlingsempfang der SPD Vogelsbergkreis im Lauterbacher "Posthotel Johannesberg".
Swen Bastian, Vorsitzender der Kreis-SPD, konnte neben Kommunalpolitikern unterschiedlicher Couleur auch zahlreiche interessierte Bürger begrüßen, die gekommen waren, um den gebürtigen Kasselaner Eichel zu erleben. Den sehr erfolgreichen Auftakt der neuen Reihe "Frühlingsempfänge" hatte vor über einem Jahr Franz Müntefering gestaltet, früherer Bundesvorsitzender der SPD, ehemaliger Vizekanzler im ersten Kabinett von Angela Merkel, und einstiger Bundesminister für Arbeit und Soziales. Der heimischen SPD sei es wichtig, bei einer solchen Veranstaltung mit den Vertretern der unterschiedlichsten Gruppierungen und Verbände in wechselseitigen Dialog zu treten, so Bastian. Den gelungenen Einstieg hierfür lieferte auch am Mittwochabend ein Sektempfang, bei dem Gelegenheit zum lockeren Plausch gegeben war.
Der "überzeugte Europäer" (Bastian über Eichel) lieferte anschließend eine gut einstündige bestechende Analyse der aktuellen Situation, die sich um die Kernfrage drehte, ob Europa heute noch eine Zukunft hat. Um das Fazit des eindringlichen Plädoyers vorwegzunehmen: Eichel bekannte sich zur europäischen Einigung – allerdings nicht zu einer kleinlichen Bürokratie, sondern zu einem Europa, das nur geeint die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bestehen könnte. Beispielhaft nannte der frühere Bundesfinanzminister die Klimakatastrophe und die Flüchtlingskrise. Europa mache nur Sinn als "sicherer Hof" in dieser globalisierten Welt, betonte Eichel, der beklagte, dass es derzeit in ganz Europa keinen einzigen Regierungschef gebe, der strategisch denke und handle. Die Eurozone beispielsweise hätte längst stärker zusammengeführt werden müssen; unter anderem durch einen eigenen Haushalt und eine eigene Arbeitslosen-Versicherung.
Anschaulich skizzierte der SPD-Mann den Werdegang des vereinten Europa, das nach dem Zweiten Weltkrieg als "Friedensprojekt" begonnen worden sei und als Gebilde der Völker, nicht nur der Regierungen. Am Anfang habe keine politische, sondern eine wirtschaftliche Einigung gestanden, erinnerte Eichel, der die Bankenkrise an den Beginn der aktuell so genannten "Eurokrise" stellte. Eichel: "Für die europäische Staatsschuldenkrise sind die Banken der Auslöser gewesen; sie, deren eigentliche Aufgabe das Finanzieren der normalen Wirtschaft sein sollte."
Sollten die Briten aus der EU ausscheiden, dann sei dies schlimm für die Europäische Union, "aber furchtbar für Großbritannien. Denn es droht ein Klein-England zu werden, sollte Schottland in der EU bleiben wollen". Im Übrigen müsse den Briten klar gemacht werden, dass sie durch einen Austritt alle Vorteile verlieren, "und dass Paris oder Frankfurt etwas aus London abziehen werden.
Die Briten bestimmen dann die Regeln nicht mehr, auch wenn sie freien Marktzugang haben wollen". Ungarn und Polen beispielsweise blieben in der EU, "weil sie viel Geld aus der europäischen Kasse bekommen und darauf natürlich nicht verzichten möchten".
Den Ausführungen folgte eine intensive Fragerunde sowie als Gastgeschenk für Eichel ein Linolschnitt des Wartenberger Künstlers Andreas Schmelzer. Darauf als Porträt: Altkanzler Helmut Schmidt (SPD).